6000 km. 57 Everests. 123,494 m hoch. 506,430 m runter.

Mein Bike sieht nicht neu aus.

Der Kettenstrebenschutz – diese coolen Gummi-Nachbildungen der Chaumont-Jumpline – ist mehr als nur ein bisschen ramponiert und teilweise nur noch mit schwarzem Isolierband befestigt. Das gleiche Tape ist auch rund um die Dämpferaufnahme gewickelt, als Schutz gegen einen besonders gemeinen Fahrradträger. Über den Rahmen verteilt trägt der (ziemlich geile) schwarze Disco-Glitter-Lack die Spuren unzähliger Begegnungen mit allem, was ein Trail so zu bieten hat. Trotzdem sieht er noch besser aus als die stärker exponierten Komponenten, die mittlerweile dieses unverkennbare „Rohmetall-Finish“ haben – das bekommt man übrigens nur hin, wenn man sie regelmässig auf Felsen schlägt.

Kurz gesagt: „Kaum genutzt, nur ein Vorbesitzer“ würde als Verkaufsanzeige nicht gerade glaubwürdig rüberkommen.

Aber das ist eigentlich auch fair. Das Rad hat zwei volle Saisons als Guide-Bike in Frankreich, der Schweiz und Italien hinter sich – und wenn es nicht für die Arbeit genutzt wurde, dann eben nur für „Spassfahrten“.

Weil es ja absolut unmöglich ist, auf den besten Trails der Welt Woche für Woche Spass zu haben… also wirklich, wer käme denn auf so eine absurde Idee?

Das Bike führt ein Doppelleben: Lieblingsspielzeug für die richtig guten Zeiten, aber gleichzeitig auch ein Arbeitsgerät. Ein Werkzeug, genau wie ein Laptop, ein Van, ein Skalpell oder eine Bohrmaschine. So sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass man es erst wirklich bemerkt, wenn es kaputtgeht. Zum Glück passiert das heutzutage nicht mehr so oft. Hat eigentlich schon mal jemand erwähnt, wie verdammt gut moderne Mountainbikes geworden sind?

Jeder hat ein Traumbike. Aber haben diese Bikes auch einen Traum-Besitzer? Ziemlich sicher bin ich das nicht. An einem normalen (und ja, ich weiss, wie cool und privilegiert es ist, dass das für mich „normal“ ist) sechstägigen Trip, wie er im Sommer Standard ist, muss das Bike erst einmal stundenlang durch Schlamm, Staub, Regen, Sonne, Steine und Flüsse geprügelt werden. Dann wird es lieblos gegen die Wand eines Cafés gelehnt, während die Gäste drinnen auf einen epischen Tag anstossen – einen Tag, der ohne dieses vernachlässigte Bike gar nicht möglich gewesen wäre. Später müssen die Bikes der Kunden gewaschen und repariert werden, bevor es etwas zu essen gibt. Wenn mein Bike Glück hat, bekommt es einen Spritzer Kettenöl ab. Danach wird es entweder in einer Hütte angekettet oder einfach draussen abgestellt – bis zum nächsten Tag. Und dem danach. Und dem danach…

Am Ende der Woche gibt es dann einen freien Tag – Zeit, um das Equipment zu waschen, mal normales Essen zu essen und nicht zu viel über Bikes nachzudenken, bevor es direkt wieder für sechs Tage losgeht.

Ja, ich weiss, dass es da so etwas wie Wartungsintervalle gibt. Ich weiss nur auch, dass ich sie nicht einhalte.

Dank des Logbuchs für die berufliche Weiterbildung als Guide kann ich genau nachverfolgen, wie die Kilometer und Tiefenmeter nur so dahinfliegen: 5.949 Kilometer quer durchs Gelände, 506.430 Meter bergab. Oder anders gesagt – 57 Mal auf den Everest, 1.011 Pleney-Abfahrten oder 1.535 Mal den Eiffelturm runter. Kommt ganz drauf an, welche Schlagzeile euer Lieblings-Boulevardblatt daraus basteln würde.

Aber viel wichtiger als all diese Zahlen – oder selbst die Zuverlässigkeit – ist, dass es einfach nur unfassbar viel Spass macht. So viele heisse Tage stecken in diesen kühlen Zahlen, an denen es sich schon für eine einzige dieser Abfahrten gelohnt hätte, das Bike überhaupt zu besitzen. Geschweige denn für all die hunderten anderen.

Ob es das Strahlen in den Gesichtern der Gäste ist, wenn sie auf Trails unterwegs sind, die sie sich vorher nur erträumt haben, das Feeling, wenn ich endlich ein lang ersehntes Feature auf einem Trail knacke, oder einfach dieses warme Glücksgefühl, mit Freunden auf dem Bike unterwegs zu sein und den Sonnenuntergang von einem atemberaubenden Spot aus zu geniessen – mein Bike war bei all dem dabei.

Und jetzt mal ehrlich: Wie viele Bikes bekommen die Chance, auf einem Schweizer Singletrail zu rollen, während die Sonne in eine Wolkendecke taucht? Wie viele Bikes haben die meisten ikonischen Lifte europäischer Bikeparks gesehen – und dann auf dem Weg nach unten jeden einzelnen Sprung verkackt (MTB-Guides: Wir casen die Jumps, damit ihr es nicht müsst)? Wie viele Bikes wurden in einer Woche einmal um den Mont Blanc gefahren und dann bis an die ligurische Küste gejagt? Chamonix, Verbier, La Grave, Morzine, Pila, La Thuile, Molini, Finale, Lago di Garda, Val di Sole. Aostatal, Wallis, Queyras, Tarentaise und so viele mehr.

Vielleicht hat es doch kein so schlechtes Leben. Hoffentlich nicht – es hat schliesslich noch ein Jahr Arbeit vor sich…

SCOR 4060 LT

Massiv Spass.
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